Kinderschutzgruppe und Opferberatungsstelle 2023: Zunahme der Misshandlungen – insbesondere durch Vernachlässigung
Nicht in allen Fällen konnte die Kinderschutzgruppe und Opferberatungsstelle eine sichere Misshandlung feststellen. Sicher war das Team in 518 Fällen. In 123 Fällen konnte der Verdacht nicht bestätigt, aber auch nicht ausgeräumt werden. In solchen Fällen werden die Kinder und deren Familien entweder engmaschig nachkontrolliert oder mit weiterbetreuenden Stellen (Kinderärztinnen, Mütter- und Väterberatung, Kinder- und Jugendhilfezentren etc.) vernetzt. Bei einigen der gemeldeten Kinder – im Jahr 2023 waren es 38 – stellte sich heraus, dass keine Misshandlung vorlag, sondern zum Beispiel ein Unfall zu einer Verletzung führte.
2023 mehr Fälle von Vernachlässigung, aber weniger körperliche Misshandlung
In der Erfassung von Kinderschutzfällen werden 5 Kategorien unterschieden: körperliche und psychische Misshandlung, sexueller Missbrauch, Vernachlässigung und Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom. Dabei können in einem Fall mehrere Misshandlungsformen vorliegen. Zugeteilt wird das Kind derjenigen Kategorie, die am offensichtlichsten ist. Zum Beispiel zählt ein geschlagenes Kind mit einem Bluterguss am Rücken zur Kategorie körperliche Misshandlung, obwohl es auch psychisch unter den Schlägen leidet.
Nachdem im Jahr 2022 eine Zunahme der körperlichen Misshandlung registriert wurde, haben diese Fälle im 2023 wieder leicht abgenommen. Die Zahl der vernachlässigten Kinder ist 2023 erneut angestiegen und macht neu einen Viertel aller gemeldeten Verdachtsfälle aus. Als Vergleich: 2017 wurden nur 11% der gemeldeten Fälle als Vernachlässigung erfasst. Seither kam es jährlich zu einer Zunahme der Fallzahlen in dieser Kategorie. Die Zahl der psychischen Misshandlungen und des sexuellen Missbrauchs ist im letzten Jahr in etwa gleich geblieben.
Vernachlässigung – was bedeutet das?
Vernachlässigung ist weltweit eine der häufigsten Misshandlungsformen bei Kindern. Die Bandbreite der Vernachlässigung und deren Auswirkung auf die betroffenen Kinder ist gross und teilweise bei einer einmaligen Konsultation im Spital schwierig zu erkennen. Ein blaues Auge ist offensichtlich. Aber wie ungepflegt darf ein Kind sein? Ab wann liegt eine Vernachlässigung vor? Gesellschaftliche Normen haben ebenfalls Einfluss auf diese Antwort.
Von Kindesvernachlässigung – im Englischen child neglect – wird gesprochen, wenn die Grundbedürfnisse eines Kindes nicht ausreichend erfüllt werden. Die Eltern oder andere Betreuungspersonen unterlassen in diesen Fällen andauernd oder wiederholt fürsorgliche Handlungen, die für eine gesunde körperliche und psychische Entwicklung des Kindes notwendig wären. Dies kann zu gravierenden Folgen, wie beispielsweise psychischen Problemen und im Extremfall zum Tod eines Kindes führen. Es wird zwischen verschiedenen Formen der Vernachlässigung unterschieden. Hier einige Beispiele: Zur körperlichen Vernachlässigung gehören eine unzureichende Versorgung mit Nahrung, mangelnde Pflege und Hygiene, der Witterung nicht angemessene Kleidung und unpassende Wohnverhältnisse. Ein Kind wird emotional vernachlässigt, wenn es zu wenig Aufmerksamkeit, Geborgenheit und Wertschätzung erhält oder wenn das Kind und seine emotionalen Bedürfnisse zu wenig wahrgenommen oder gar ignoriert werden. Von erzieherischer Vernachlässigung spricht man, wenn das Kind nicht ausreichende Bildungsangebote erhält, beispielsweise nicht in die Schule geht oder nicht seinem Entwicklungsstand entsprechend gefördert wird. Auch ein Kind, welches mangelhaft beaufsichtigt wird oder oft alleine ist, wird vernachlässigt. Bei der Vernachlässigung der gesundheitlichen Fürsorge werden medizinische Probleme des Kindes nicht wahrgenommen, ungenügend behandelt oder empfohlene Vorsorgeuntersuchungen nicht durchgeführt.
Zur Vernachlässigung kommt es, wenn Eltern die Bedürfnisse ihres Kindes nicht erkennen, überfordert oder zu stark mit sich selbst beschäftigt sind. Das Risiko einer Vernachlässigung ist erhöht in Familien mit ungenügendem Einkommen. Armut verursacht Stress, welcher die Eltern daran hindern kann, die materiellen und emotionalen Bedürfnisse ihrer Kinder abzudecken. Elterlicher Alkohol- und Drogenkonsum sowie psychische Erkrankungen der Eltern sind weitere Risikofaktoren.
Gründe, weshalb die Fallzahlen an Vernachlässigung über die letzten Jahre deutlich zugenommen haben, können eine erhöhte Sensibilität für diese Misshandlungsform sein, eine reale Zunahme der Fälle oder eine Kombination aus beidem. Wichtig ist, dass auch zukünftig auf die subtileren Anzeichen dieser Misshandlungsform geachtet wird – sei es bei der Kinderärztin, beim Kinderarzt, in der Schule oder in der Nachbarschaft.
Das Recht auf gewaltfreie Erziehung
Kinderrechte werden auch in der Schweiz gesetzlich verankert: Gewaltfreie Erziehung soll zukünftig im Zivilgesetzbuch (ZGB) implementiert werden – der Bundesrat hat im August 2023 die Vernehmlassung für die Gesetzesrevision eröffnet.
Die Kinderschutzgruppe und Opferberatungsstelle des Universitäts-Kinderspitals Zürich betreut nicht nur Kinder und Jugendliche, die im Spital stationär oder ambulant gesehen werden. Sie berät auch Fach- und Bezugspersonen, die einen Verdacht auf eine Gefährdung oder Misshandlung bei einem Kind äussern.
Kontakt für Medien
Dr. med. Georg Staubli, Leiter Kinderschutzgruppe und Abteilungsleiter Notfallstation am Universitäts-Kinderspital Zürich
via Medienstelle:
Kinderschutzgruppe und Opferberatungsstelle
Die Kinderschutzgruppe befasst sich mit Säuglingen, Kindern und Jugendlichen, die Opfer einer Misshandlung wurden oder gefährdet sind, misshandelt zu werden. Ziel der Kinderschutzgruppe ist es, durch sorgfältig geplante Interventionen drohende Misshandlungen abzuwenden und betroffene Kinder und Jugendliche vor wiederholter Misshandlung zu schützen. Im Zentrum der Bemühungen steht das Wohl der Kinder und Jugendlichen: Sie werden medizinisch versorgt, ihr soziales Netzwerk gestärkt.
Die interdisziplinäre und multiprofessionelle Zusammenarbeit von Spezialisten und Spezialistinnen aus Medizin, Psychiatrie, Psychologie, Gynäkologie, Pflege und Sozialarbeit ermöglicht es, die verschiedenen Facetten einer Misshandlungssituation zu erfassen und bestmöglich zu reagieren. Bezugspersonen sowie nachbehandelnde und nachkontrollierende Institutionen werden früh in die Arbeit und Entscheide der Kinderschutzgruppe miteinbezogen.
In unserer Opferberatungsstelle werden Opfer von Gewalttaten nach den Vorgaben des Opferhilfegesetzes in rechtlichen, psychosozialen und teils auch finanziellen Belangen beraten und unterstützt. Nebst dem Opfer begleiten wir auch dessen Angehörige. Fachpersonen und Institutionen können sich ebenfalls beraten lassen.
Mehr Infos unter www.kinderschutzgruppe.ch oder www.kispi.uzh.ch/opferberatungsstelle