Lio fand im Kinderspital sein erstes Zuhause
Lio, erst wenige Wochen alt, schmiegt sich eng an die Brust seines Vaters und blickt mit seinen wachen grün-braunen Augen neugierig in alle Richtungen. «Unsere zwei älteren Söhne haben beide braune Augen, ich aber blaue», erklärt Anthony. «Bei Lio hatte ich deshalb auf blaue Augen gehofft. Das hat heute gar keine Priorität mehr.» Denn Lio ist krank, seit Geburt. Das Kinderspital Zürich ist sein Zuhause, hier verbrachte er seine bisherigen Tage und Nächte – auf der Intensivstation, im OP-Saal und vor allem auf der Neonatologie, der Abteilung für Neugeborene.
Plötzlich kam es anders
Während der Schwangerschaft seiner Mutter Linda hatte nichts darauf hingedeutet, dass etwas nicht stimmte; alle Voruntersuchungen verliefen einwandfrei. Im achten Monat stellte der Frauenarzt fest, dass Linda etwas viel Fruchtwasser hatte. Kurz darauf wurde sie notfallmässig in die Geburtenabteilung eines nahegelegenen Spitals transportiert, wegen starker Unterleibsblutungen. Plötzlich musste alles schnell gehen: Anästhesie. Kaiserschnitt. Baby Lio. 2200 Gramm. Fünf Wochen zu früh. Er wurde sofort weggebracht.
Seine Speiseröhre ist nicht durchgehend
Die Babyambulanz, ein speziell für Säuglinge ausgestatteter Krankenwagen, fuhr Lio ins Kinderspital Zürich, wo er nach umfassenden Untersuchungen die Diagnose erhielt: Ösophagusatresie. Seine Speiseröhre war nicht durchgehend, sondern mit der Luftröhre verbunden. Eine grosse Lücke klaffte zwischen den beiden Enden. Lio konnte deshalb nicht trinken. Über einen Katheter in seiner Vene verabreichte man ihm die lebensnotwendigen Nährstoffe. «Die ersten Tage waren schrecklich», erinnert sich Linda zurück, «so hatte es die Natur nicht vorgesehen. Statt mein Baby in den Armen zu halten, musste ich es abgeben.»
Drei Wochen später trennten die Chirurgen Lios Speise- von der Luftröhre und rekonstruierten sie so, dass sie durchgängig wurde. Ein Teil der Röhre blieb eng, weshalb das Schlucken für Lio sehr schwierig war und er sich oft bereits beim Trinken weniger Tropfen Milch verschluckte. Auch seinen eigenen Speichel konnte er nicht hinunterschlucken. Sekret und Milch stauten sich in der engen Speiseröhre, drückten zudem auf die Luftröhre und lösten bei ihm Atemnot aus.

Geplagt von schlechtem Gewissen
Linda und Anthony richteten ihren Alltag nach Lio aus, besuchten ihn täglich, meistens sogar mehrmals. «Abends brachten wir unsere Jungs zuhause ins Bett. Danach fuhr jemand von uns die 45 Minuten zum Kinderspital, um auch Lio Gute Nacht zu wünschen», sagt Linda. Beide bemühten sie sich, für alle ihre Kinder da zu sein. Und trotzdem plagte sie ständig ein schlechtes Gewissen: «Im Spital mussten wir an unsere Söhne zuhause denken, die uns vermissten. Waren wir bei ihnen, kreisten unsere Gedanken um Lio.» Und zwischendurch hatte Anthony Gewissensbisse gegenüber seinem sehr kulanten Arbeitgeber.
Erkennt Lio sein Mami?
Immer wieder fanden sich die Eltern auf einer emotionalen Achterbahn. «Ich fürchtete, dass Lio mich als Mami nicht erkennen würde», sagt Linda, da ihr Sohn im Kinderspital von mehreren Pflegefachfrauen und Ärztinnen betreut wurde. Doch war es ihre Stimme, die nach der ersten Operation seine Äuglein zum Leuchten brachte. Das gab ihr Zuversicht. Und auch das Gespräch mit der Psychologin am Kinderspital, welche die Eltern begleitete. Oder die Stunden mit der Musiktherapeutin. Sie sorgte dafür, dass Lio sich trotz all der piepsenden Geräte um ihn herum entspannen konnte, und sie zeigte den Eltern, wie sie über Gesang einen speziellen Zugang zu ihrem kranken Baby schafften.
Während Lio wochenlang auf der Neonatologie lag, bemühten sich die Pflegefachfrauen auch darum, den Eltern intime Augenblicke mit ihrem Kleinsten zu ermöglichen. Linda dazu: «Sie halfen mir, den sperrigen Überwachungsmonitor auf den Balkon zu befördern, damit Lio zum ersten Mal Aussenluft schnuppern konnte. Als er sein Gesichtchen gegen die Sonne drehte, kamen mir die Tränen.»

Eltern gehören zum Behandlungsteam
Die Zukunft verspricht Gutes für Lio. «Von Anfang an hatten uns die Ärztinnen und Ärzte erläutert, dass uns die Zeit in die Hände spielt.» Denn mit jedem Monat entwickelt sich Lios Körper weiter, seine Speiseröhre wächst, womit sein Leiden langsam schwindet. Doch bis Lio ein ganz normales Leben führen kann, muss er noch einige Hürden überwinden.
«Ein Neugeborenes gibt man nicht so einfach ab», sagt Linda, «doch wusste ich Lio im Kispi in den besten Händen.» Hier wurden sie als Eltern nicht nur informiert, sondern durften mitreden. «Wir sehen uns als Teil des Behandlungsteams. Die Ärztinnen und Ärzte, Chirurginnen und Chirurgen sowie Pflegefachkräfte nehmen unsere Anliegen ernst. Unsere Meinung und unsere Entscheidungen zählen.» Dadurch habe sich ein gegenseitiges Vertrauen entwickelt und eine Beziehung zu vielen Mitarbeitenden: «Auf der Station kennen uns alle beim Namen, nehmen sich Zeit für uns und machen uns Mut.»
